Mönchengladbach, Krahnendonkhalle, 19. September 2020. Zwei Jahre Kyudo, zweite Kyu-Prüfung: Das hört sich gut an, finde ich. Die letzten Wochen habe ich intensiv trainiert, Theorie geübt, meine Sehne schön gemacht, bin pünktlich in der Halle erschienen, habe nichts vergessen, ausgeschlafen bin ich auch, die Haare sitzen, ich bin gut gelaunt. Was sollte jetzt noch schief gehen? Ich freue mich auf das Vorschießen der ersten zwei Pfeile.
In meiner Riege bin ich als letzte an der Reihe – wir vier streben heute den 2. Kyu an – lege den ersten Pfeil ein, hebe den Bogen, ziehe ihn langsam auf, es läuft wie am Schnürchen. Der Pfeil fällt. Der Pfeil fällt? Ja er fällt einfach zu Boden. „Shitsu ist kein Problem, das hast du geübt“, denke ich und beseitige meinen Fehler zügig und mit Gelassenheit. Ein Helfer holt ihn ab. Der zweite Pfeil wird dafür umso besser. Und genauso sollte es kommen, denn ich übertreffe mich diesmal selbst, als der zweite Pfeil, begleitet von einem unwillentlich geäußerten Ausruf des Entsetzens, laut scheppernd zu Boden geht.
Ich möchte jetzt nach Hause. Aber das geht nicht, denn es ist erst 11:30 Uhr – die Veranstaltung hat gerade erst begonnen und ich habe in den ersten Minuten bereits eindrucksvoll meine Fehlleistungen Pflöcken gleich lauthals eingeschlagen. „Läuft“, denke ich. Und was nun? Auf Tischtennis umsteigen? Vom Bewegungsablauf deutlich zu kompliziert! Als ich beginne über Nordic Walking als neuen Sport nachzudenken, spricht mich meine Vereins-Kollegin Dagmar an: „Sabine hast du auch bemerkt, wie schwer sich die Pfeile aus dem Styropor hinter der Zielscheibe ziehen lassen? – Ach ne, du musstest deine ja gar nicht ziehen gehen“, korrigiert sie sich gleich darauf betreten. Wir beide müssen herzlich lachen, das tut gut.
Und dennoch bin ich jetzt verunsichert, habe das Gefühl, heute keinen Pfeil mehr ordentlich schießen zu können. Woran liegt das nur?
Natürlich, Kyudo ist kompliziert! Manchmal kommt es mir vor wie ein riesen Puzzle. Als Kyudo-Anfänger freut man sich wie ein Vorschulkind, wenn es einem gelingt, die vier bis fünf riesigen Puzzle-Teile aus dicker Pappe ungelenk zusammenzuhauen und man tatsächlich das korrekte Bild eines Marienkäfers oder Teddybären zum Vorschein bringt. Doch dann werden die Puzzle-Teile immer mehr und kleiner, feiner, die Bilder größer und komplizierter. Da bin ich noch lange nicht, aber ich würde sagen, dass ich jetzt schon fast ein kleines Katzen-Bild puzzeln kann. Heute habe ich allerdings den Überblick über die Teile verloren, ich habe nicht mal die Ecken gefunden oder den Rand legen können. Deutlich besser läuft es nämlich auch in den kommenden Übungsrunden nicht. Mir fällt zwar kein Pfeil mehr runter, aber ich komme auch nicht recht in den Bewegungsablauf hinein. Alles ist entweder zu locker, zu steif, zu kontrolliert – von allem eben ein bisschen „zu sehr“, sodass ich zunehmend verunsichert bin.
Es ist inzwischen nach 17 Uhr und die Prüfung steht an. Nur noch zwei Pfeile, die letzten für den heutigen Tag – und auch die entscheidenden. Jetzt muss ich noch einmal alles aus mir herausholen. Je mehr ich darüber nachdenke, erscheint es mir auch wieder als ein „zu“ viel „zu“ gezwungen und ich frage mich, warum ich eigentlich hier bin. Ich bin heute hier, weil mir Kyudo Freude macht, weil ich gern mit Pfeil und Bogen schieße, weil ich den Klang liebe, wenn sich der Bogen biegt, der Pfeil sausend fortjagt und – vielleicht sogar – mit einem satten Plopp-Geräusch das Papier des Matos durchschlägt. All das macht mir einfach Freude!
Also besinne ich mich bei den letzten beiden Pfeilen des Tages allein darauf. Freude am Kyudo. „Plopp“, der erste Pfeil macht einfach nur Spaß; der zweite hinterlässt das gute Gefühl, es womöglich heute geschafft zu haben.
„2. Kyu“, heißt es bei der Bekanntgabe an diesem Nachmittag für meine Vereinskollegen Dagmar und Joachim – und tatsächlich auch für mich. Zumindest die Puzzle-Ecken habe ich wohl noch rechtzeitig gefunden. – Sabine Kückemanns (2.Kyu)